Linus Posselt erhält mit neun Jahren seine Autismus- Diagnose.
Heute arbeitet er erfolgreich als Softwareentwickler und engagiert sich ehrenamtlich. Geholfen hat eine Schulbegleitung.

Wäre alles anders gelaufen? Linus Posselt zuckt lächelnd die Achseln. Im dunkelblauen Anzug und hellen Hemd sitzt der 24-Jährige im Besprechungsraum des Autismuszentrums Bruchsal. Ohne die vielfältige Unterstützung wäre vielleicht keine Erfolgsgeschichte daraus geworden.

„Meine Eltern haben schon früh festgestellt, dass ich Besonderheiten habe. In der Grundschule hatte ich große Probleme, mich einzufügen.“ Gegenüber Mitschülern sei er handgreiflich geworden, wenn ihm alles zu viel geworden sei.

Völlig überfordert flüchtet er immer wieder aus dem

Unterricht oder vom Schulgelände. Lehrkräfte reagieren verständnislos, aus Sicht der Schulleitung gehört der Junge nicht auf eine reguläre Schule.

Vor 15 Jahren dann, mit neun Jahren, erhält er endlich die Diagnose: Verdacht auf eine Autismus-Spektrumsstörung.


Die Diagnose bringt Klarheit und 
Erleichterung

Die Betroffenen können das Verhalten oder die Gefühle anderer Menschen nur schwer einschätzen und haben selbst Schwierigkeiten, diese auszusenden. Die Reaktionen erscheinen deshalb oft unangemessen und lösen bei den Mitmenschen Irritationen aus.
Für den Neunjährigen und seine Familie ist die Diagnose eine Erleichterung und die längst überfällige Erklärung für viele Besonderheiten.
Seine Rettung ist die Schulbegleitung, die er in der Heilpädagogischen Praxis von Ulrich Zimmermann in Bruchsal bekommt.

Tag der offenen Tür im Autismuszentrum Bruchsal zur Schulbegleitung

Dort wird am Freitag, 27. September, zusammen mit dem Autismuszentrum Bruchsal in der Wilderichstraße 9 von 13 bis 16 Uhr mit einem Tag der offenen Tür 20 Jahre
Schulbegleitung gefeiert. Neben der Mutter eines Betroffenen und einem Schulbegleiter wird auch Linus Posselt über seine positiven Erfahrungen berichten.

In einem Vortrag am 18. Oktober um 18 Uhr im Exiltheater Bruchsal berichtet außerdem Peter Schmidt „Wie ich die Schulzeit (üb)erlebt habe“. Der Asperger-Autist und Geophysiker erklärt die typischen Verhaltensweisen, die oft als Störung empfunden werden. Schmidt erhielt erst mit 41 Jahren die Diagnose.

Lange Warteliste für Schulbegleiter

„Der Bedarf an Schulbegleitern ist riesig“, sagt Elvira Mensinger, Geschäftsführerin des Autismuszentrums Bruchsal. Seit 2011 gibt es das Zentrum. Von Bad Schönborn aus werden die drei Standorte in Bruchsal, Durlach und Wiesloch verwaltet.

Die Wartelisten sind lang. Gegenwärtig benötigen laut Mensinger 80 Kinder eine Schulbegleitung. Mit dem Tag der offenen Tür soll um neue Schulbegleiter geworben werden. Das können alle Menschen mit einem pädagogischen Beruf sein.

Derzeit werden im Autismuszentrum und der Heilpädagogischen Praxis 220 Kinder und Jugendliche durch 180 Schulbegleiter betreut. „Viele Betroffene konnten erfolgreich begleitet werden“, so Elvira Mensinger. Linus Posselt sei dafür ein Beispiel.

Der Weg ist nicht einfach und oft auch kurvenreich: Von der Dorfschule wechselt er auf die Erich-Kästner-Schule, eine Sonderschule in Karlsruhe. Nach einem Jahr auf der Realschule in seinem Heimatort geht gar nichts mehr. Dann wird er zu Hause unterrichtet, ehe er in der sechsten Klasse auf die Realschule in Durlach wechselt.

„Wenn Schulbegleiter gesehen haben, dass mir
alles zu viel wurde, sind wir dann raus gegangen.“
Linus Posselt Autismus-Betroffener

Ab der dritten Klasse sind immer Schulbegleiter dabei. Anfangs in jeder Stunde, zum Ende nur noch gezielt für die Abschlussprüfungen. Sie haben die Rolle des Lotsen und Dolmetschers im trubeligen Schulalltag. Der ganz gewöhnliche Lärm, Kabbeleien und das Geschrei im Klassenzimmer können Autismus-Betroffene schnell überfordern.

„Wenn die Schulbegleiter gesehen haben, dass mir alles zu viel wurde und ich eine Pause brauche, haben sie mich angestupst. Wir sind dann raus gegangen und haben die Situation analysiert“, erzählt Linus Posselt.
Im Laufe der Jahre hat er dabei gelernt, seine Überforderung und Grenzen rechtzeitig zu erkennen und zu kommunizieren.

Erfolgreich als Fachinformatiker und Softwareentwickler

Auch mit Spontaneität können viele Autisten schlecht umgehen. Der 24-Jährige hat dafür Strategien entwickelt und Erfahrungen gesammelt. Heute könne er sagen, wenn für ihn eine Situation nicht stimmig sei. Bei der Ausbildung als Fachinformatiker, die er nach dem Realschulabschluss begonnen hat, ist er auf großes Verständnis gestoßen, sagt er.
Seit 2019 arbeitet Posselt als Softwareentwickler bei der IT-Tochter von dm. „Es passiert mir aber auch heute noch, dass ich in alte Muster zurückfalle, patzig reagiere und mich zurückziehe“, erzählt der 24-Jährige selbstkritisch.
Seine Erfahrungen und Strategien helfen ihm dabei, mit der Situation umzugehen. Auf Vorurteile sei er dabei nicht gestoßen, im Gegenteil. Seine Kollegen fänden es toll, wie er sich entwickelt habe.

Ehrenamtliches Engagement im CVJM

Mittlerweile lebt er in Graben-Neudorf. Er ist Vorsitzender des CVJM in Berghausen. Seit 2017 ist er auch regelmäßig bei Zeltlagern mit vielen Kindern und Jugendlichen dabei. Durchaus herausfordernde Situationen, wie er einräumt:

„Wenn ich mich darauf einstellen kann, ist es kein Problem“, so der 24-Jährige.

Mit der Kamera dokumentiert er das Alltagsleben im Zeltlager. Ein ambitioniertes Hobby, wie er lächelnd erzählt. Zum zweiten Mal hat er die Anfrage erhalten, eine Hochzeit zu fotografieren. Man merkt, das freut ihn. Mittlerweile überlege er sogar, noch ein Studium anzufangen.

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